Dr. Christmas - Weihnachten ist überall...
...heute kommt Teil 4 der Weihnachts-FF von Melo & Diana.
Teil 4
Selbst, wenn Bill gewollt hätte, hätte er nicht verhindern können, dass
er sie fester an sich drückte, sein Magen Achterbahn fuhr und er sich
wünschte, er hätte die Macht, die Zeit anzuhalten. Doch bereits nach ein
paar Herzschlägen spürte er ihren Widerstand. Sie drehte den Kopf
beiseite und flüsterte "Lass das."
Bill lächelte unglücklich.
"Tut mir leid", sagte er leise und ließ sie los. Er verstand dieses Mädchen nicht. Was immer Bill tat, schien ihr das Falsche zu sein, wann immer er einen Schritt auf sie zuging, lief Mara einen zurück.
"Ich . ich sollte jetzt gehen", sagte sie leise, lächelte flüchtig und drehte sich um. Ehe Bill begriffen hatte, was geschehen war, war sie auch schon zwischen den eng tanzenden Körpern verschwunden und ließ die Leere zurück, die Mel wenigstens vorübergehend gefüllt hatte.
Schlecht gelaunt kämpfte er sich zu Gustav, George und seinem Bruder.
"Ich werde nach Hause gehen", sagte er, "aber bleibt ruhig noch hier."
Tom blickte seinen Bruder stirnrunzelnd an.
"Soll ich mitkommen?"
Bill schüttelte den Kopf und zwang sich zu einem Lächeln, obgleich er wusste, dass Tom es durchschauen würde.
"Nein, amüsiere dich mal, Tommy."
Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ er die Tanzfläche, steuerte die Garderobe an und ließ sich seine Jacke geben. Als er das Center verließ, zog er den Kopf zwischen Mantel und Schultern, denn der Wind blies eisig.
Bill gab sich alle Mühe, das Chaos in seinem Kopf zu ordnen, während er zur Bushaltestelle lief, doch es wollte ihm nicht recht gelingen. Was war nur mit Mara los, verdammt nochmal? Wenn sie eifersüchtig war, dann sollte sie als Medizinerin doch wissen, dass ihr Körper ihr damit signalisierte, dass sie Bill gegenüber etwas empfand. Wahrscheinlich wusste sie das längst und wollte es sich nur nicht eingestehen, weil sie damit ein Stück der Kontrolle über sich verlor, die sie so zwanghaft versuchte, im Griff zu haben.
Bill schüttelte den Kopf, schalte sich nicht herumzuspinnen und spürte bereits jetzt die Schmerzen, die er nach dem ganzen süßen Glühwein, morgen vermutlich in voller Härte mit sich herumschleppen durfte.
Deprimiert fuhren seine Augen über die bunten Lichter, die ihn eigentlich freudig stimmen sollten, doch seine Kopfschmerzen nur verstärkten.
Als er in den Bus einstieg, zwang er sich, in Gedanken ein paar lateinische Bezeichnungen der menschlichen Knochen aufzusagen, nur um sich von Mara abzulenken. Das tat er, bis er zu Hause angekommen und ins Bett gegangen war, bis sein Körper schließlich sein Recht einforderte und ihn in einen tiefen traumlosen Schlaf fallen ließ.
Als Bell, Tom und er am nächsten Morgen auf dem Weg zur Arbeit waren, war Bill mehr als unwohl. Nicht nur, dass sein Körper ihm den Glühwein in Form von leichten Kopfschmerzen zurückzahlte, sondern auch weil ihm klar war, dass das mit Mara heute vermutlich nicht besser werden würde. Sie war gestern gegangen, hatte ihn einfach stehen lassen, nachdem er ihr die Standpauke verpasst und er sie geküsst hatte. Es war unangenehm. Aber er konnte den gestrigen Abend nicht rückgängig machen und musste nun mit den Konsequenzen leben. Er hatte zwar jedes Wort ehrlich und nicht unbedingt böse gemeint, aber es würde ihn nicht wundern, wenn Mara seine Chancen nun gänzlich auf Null gesenkt hatte. Wenn das nicht sowieso schon der Fall war . Wobei sie auf seine Bitte noch einmal mit ihm Schlittschuhlaufen zu gehen, eingegangen war. Das tat man doch nicht bei einer Person, von der man wusste, dass sie einen liebte, oder? Es hieß doch eigentlich, dass sie ihm wirklich eine kleine Chance geben wollte. Der erste Kuss, der ja von ihr ausgegangen war, sagte doch sein Übriges über ihr Inneres. "Bill, alles okay? Wir sind da!", tippte Tom ihn am Arm an und riss ihn aus den Gedanken. Verwirrt sah Bill auf und nickte dann. Ja, es war alles okay. Hoffte er zumindest. Wenn er ehrlich war, wusste er im Moment nicht, wie es ihm ging, ob alles okay war und überhaupt . Er wollte eigentlich nur nach Hause, in seinem Bett liegen und weiter schlafen. Ächzend stieg er aus dem Auto und wischte sich über die Stirn. Am liebsten hätte er sich krankschreiben lassen, aber er wollte seine Kollegen und auch die kleinen Patienten, nicht im Stich lassen. Noch bevor er die Glastüren zur Station zu Gänze aufgestoßen hatte, nistete sich ein ungutes Gefühl in seine Magengrube. Unsicherheit und Nervosität gruben sich tief in seine Eingeweide, begleitet von dem bitteren Geschmack einer schlechten Vorahnung. Vor Zimmer 5a hatte sich eine kleine Menschentraube gesammelt. Schwester und Ärzte eilten hinein und wieder hinaus. Ihre Mienen waren zwar nicht ernsthaft besorgt aber beunruhigt. "Was ist hier los?", fragt er eine der vorbeieilenden Schwestern. Diese lächelte etwas mitleidig. "Es ist Jimmy", antwortete sie, "seine Werte haben sich heute Nacht wieder verschlechtert und er verträgt die Medikation nicht. Im Moment geht es ihm wieder besser, aber ich fürchte, seinen Chancen sind nicht mehr allzu gut." Bills Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Hastig schob er die Schwester beiseite und drängte sich an den anderen vorbei, in Jimmys Zimmer. Er ignorierte die überraschten Blicke der zwei Ärzte, die an seinem Bett standen. Jimmy selbst war kreideweiß, dunkle Schatten lagen unter seinen Augen und verrieten, dass er wohl nur wenig geschlafen hatte. In seinen Armbeugen hatten sich dunkle Hämatome gebildet und unter der Nase lag ein Schlauch, der seine Atmung unterstützte. "Bill, was tun Sie hier?", fragte der Stationsarzt Dr. Hopper. "Ich . ähm . entschuldigen Sie", murmelte er und rang um eine vernünftige Antwort, als plötzlich Mara hinter ihm ins Zimmer trat und ihm die Hand auf die Schulter legte. "Jimmy hat einen sehr guten Zugang zu Bill gefunden", erklärte sie und lächelte, "ich denke, Jimmy würde es besser gehen, wenn er hier ist, stimmt's Jimmy?" Der kleine Junge nickte schwach. Auf seine blassen Lippen legte sich ein Lächeln, das Bills Herz zu brechen drohte.
Dr. Hoppe seufzte.
"Also gut, Bill", sagte er und bedeutete ihm, näher zu kommen. "Ich will, dass Sie seine Vitalzeichen überwachen und in zwei Stunden Blut abnehmen. Dann messen Sie Fieber und bitte achten Sie darauf, dass es im Zimmer nicht zu kühl wird und alle Schwestern einen Mundschutz tragen. Wir können es uns nicht leisten, dass er auch noch einen Infekt bekommt."
Bill nickte, desinfizierte sich sofort die Hände und ließ sich einen Mundschutz geben. Dann nahm er Jimmys Bett Platz.
"Na Kumpel!"
Jimmy lächelte und wartete, bis die Ärzte und Schwestern das Zimmer verlassen hatten. Grinsend sagte er:
"Dr. Bill!"
"Was jagst du uns denn für einen Schrecken ein, hm?" Bill warf einen kurzen Blick auf den Monitor, der leise vor sich hin piepte. Seine Werte waren nicht besonders berauschend, aber Bill war sicher, dass sie sich wieder normalisieren würden, wenn Jimmy etwas schlief und seinem Körper Ruhe gönnte.
Als sich hinter ihm etwas bewegte, schreckte er zusammen. Er hatte vergessen, dass Mara noch hier war. Sie lief um ihn herum und strich über Jimmys kühle Stirn.
"Tut mir Leid", sagte er leise und lächelte entschuldigend.
"Nicht doch, Jimmy", flüsterte Mara. Auch wenn sie sich alle Mühe gab, es sich nicht anmerken zu lassen, wusste Bill, dass Mara ihre Tränen mit aller Macht zurückhielt. "Du brauchst dich nicht entschuldigen. Sag, findest du es gut, wenn Bill jetzt bei dir bleibt?"
"Geht das denn? Du hast doch noch andere Patienten", murmelte Jimmy und gähnte.
Bill setzte zu einer Antwort an, doch Mara kam ihm zuvor:
"Dr. Hopper hat es doch so angeordnet, Jimmy, und außerdem kann ich Bills Aufgaben erledigen."
Überrascht sah Bill sie an. Auch wenn er ihr Gesicht unter dem Mundschutz nicht so gut sehen konnte, sah er doch die Aufrichtigkeit und die Sorge in ihren Augen.
"Danke", sagte er leise. Als Mara seinem Blick begegnete, verkühlte er sich - sie war ihm also wirklich noch böse.
"Keine Ursache", antwortete sie, streichelte noch einmal über Jimmys Wange und verließ dann das Zimmer.
Seufzend sah Bill ihr einen Moment nach und wandte sich dann wieder an Jimmy, der erschöpft seine Augen geschlossen hatte.
"Ja, schlaf am besten ein bisschen, das wird dir gut tun!", wisperte er leise und strich dem Jungen sanft durch die Haare und über die leicht erhitzte Wange. Jimmy reagierte auf seine Worte nicht, seufzte lediglich leise und drückte sich ein wenig der sanften Hand entgegen. Bill kamen beinah die Tränen. Der Kleine tat ihm so unglaublich leid. Er war so jung, hatte jetzt schon keine Familie mehr und war sterbenskrank. Und so kurz vor Weihnachten, ging es ihm zu allem Übel auch noch so schlecht. Womit hatte Jimmy das verdient? Das Leben war nicht fair .
Seufzend zog Bill seine Hand vorsichtig weg, als er bemerkte, dass der Junge tatsächlich eingeschlafen war, und lehnte sich zurück. Er würde hier bleiben und dem Kleinen beistehen, ihn bewachen, sollte der Tod ihn doch plötzlich einholen wollen. Jimmy hatte noch ein paar Wochen, Monate, vielleicht sogar Jahre vor sich. Er würde nicht zulassen, dass er jetzt schon sterben würde. Ein leises Klopfen erklang und Bill zuckte zusammen. Er war nach dem Blutziehen und Fiebermessen selbst beinah eingeschlafen und hatte das nicht einmal bemerkt. Hektisch sah er auf die Uhr, die ihm deutlich machte, dass es bereits fast Mittag war. Dann huschte sein Blick zu den Geräten, die ihm zeigten, dass Jimmy nur schlief.
Leise stand Bill auf und ging zur Tür, die er öffnete. Der Kleine sollte noch schlafen, da würde er nicht durch das Zimmer brüllen, dass der Besucher hereinkommen durfte.
Zu Bills Überraschung stand Georg vor der Tür und lächelte ihn an. Mit einem prüfenden Blick schob der sich an ihm vorbei und folgte ihm letztendlich ans Bett, wo er sich auf den Stuhl fallen ließ, während Bill sich sachte auf die Bettkante setzte, ihm einen Mundschutz und Desinfektionsmittel reichte.
"Bist du zu einem Ergebnis gekommen?", hakte Bill flüsternd, aber neugierig nach.
Georg lächelte und nickte.
"Ich war ein paar Stunden unterwegs und habe einige Nerven gelassen, aber . Ja. Ich habe bei drei Spielzeugläden Erfolg gehabt. Ihr bekommt ein paar Kuscheltiere, Spielzeug und so was. Allerdings müsstet ihr mit irgendeiner Bescheinigung, dass ihr vom Krankenhaus seid und die Spenden für die Kinder sind, hingehen und die Sachen abholen. Kann ja sonst jeder hinkommen und denen irgendwelche Märchen erzählen, ist klar. Die Sachen sind ab morgen Mittag abholbereit. Uuuuund ich habe auch gleich bei Süßigkeitenläden nachgefragt und bin bei einem erfolgreich gewesen. Von da aus bekommt ihr ein paar Schoko- und Zuckernaschereien und Kekse und Kakao, aber natürlich auch nur mit Bescheinigung. Die Sachen sind wie das Spielzeug, ab morgen Mittag abholbereit."
Erleichtert atmete Bill auf:
"George, du bist ein Genie!"
George grinste und machte eine wegwerfende Geste:
"Kinder sind der wahre Reichtum des Lebens, Bill, und für sie ist keine Mühe zu groß. Emily hat gesagt, dass sie mithelfen will, und wenn ihr einverstanden seid, würden wir gern mit euch hier zusammen Weihnachten feiern."
Bill nickte gerührt:
"Natürlich, George!" Dann seufzte er und streckte sich, um die Müdigkeit aus seinen Gliedern zu vertreiben. "Vorausgesetzt, ich bekomme eine Bescheinigung von der Verwaltung. Wenn die sich da auch noch quer stellen, dann haben wir ein Problem."
Ermutigend legte ihm George die Hand auf die Schulter:
"Das wird schon, da bin ich mir sicher. Das Krankenhaus hat keinen Aufwand und muss nichts bezahlen, warum also sollten sie da nein sagen?"
Nachdem Georg gegangen und Bill durch eine Krankenschwester abgelöst worden war, damit er eine Pause machen konnte, schnappte er sich Tom.
"Los, wir gehen zur Verwaltung", sagte er und zog Tom in einen der Fahrstühle.
"Warum machst du das nicht mit Mara?", fragte sein Bruder.
Missmutig erzählte Bill ihm von dem etwas schief gelaufenen Gespräch des gestrigen Abends. Als er geendet hatte, seufzte er tief und zuckte mit den Schultern:
"Ich denke, ich sollte sie erst mal in Ruhe lassen. Wenn sie sich beruhigt hat, dann wird sie hoffentlich zu mir kommen, denn dass sie irgendetwas empfindet, daran gibt es ja jetzt keinen Zweifel mehr."
"Hoffe ich zumindest", hängte er nach einem kurzen Moment noch an. Er wollte nicht zu voreilig sein, immerhin hatte Mara ihn lange genug abgewiesen und er war sich bewusst, dass man sich als verliebter Volltrottel gerne mal etwas einbildete oder schlichtweg falsch deutete.
"Sag mal, weil wir ja jetzt zur Verwaltung gehen . Bisher haben wir nur von den Kindern gesprochen, aber was ist denn mit den Eltern? Die könnte man doch auch informieren, damit sie kommen können, wenn sie wollen, oder? Wäre ja sonst blöd, wenn sie ausgeschlossen werden. Für die Eltern und für die Kinder. Die Frage ist nur, ob wir genug Platz haben, alle unterzukriegen, auch was Stühle und Tische angeht und so."
Fragend sah Tom seinen Bruder an, der nachdenklich die Lippen verzog.
"Ausschließen können wir sie wirklich nicht, sollten wir auch nicht. Das mit dem Platz könnte eng werden, ja. Aber schau mal, es gab doch all die Jahre immer eine Weihnachtsfeier für die Kinder, da war ja auch genug Platz und ausreichend Sitzmöglichkeiten und auch genügend Tische da. Der Besprechungssaal dürfte groß genug sein. So . verdammt, welches Zimmer war das?"
Verwirrt sah Bill den langen Gang entlang. Er war bisher nur selten hier gewesen und die Zimmer waren nur mit Aufgabenbereichen und Namen der darin sitzenden Arbeiter versehen, nicht mit Anliegen, die die Suchenden hatten.
"Der Baler war es, der ist für solche Sachen zuständig!", murmelte Tom. Er sah sich ebenfalls suchend um und lief den Gang entlang, bis er stehen blieb und Bill zu sich winkte.
"Hier!"
Gemeinsam, und mit einer Überzeugungskraft, die jeden in die Knie zwang, überredeten Bill und Tom die Verwaltung. Man sagte ihnen zwar, dass sie für alle Unkosten, die Organisation und die Helfer und Betreuer selbst aufkommen müssten, und alle Mitarbeiter, die keinen Dienst hatten, aber teilnahmen, nicht vergütet würden, aber damit hatte Bill bereits gerechnet.
Nun hieß es Freiwillige finden, die bei der Organisation und dem Weihnachtsfest selbst halfen.
Grinsend rieb sich Bill die Hände, als er - nachdem er sich einen Kaffee und eine Zigarette einverholfen hatte - im Fahrstuhl nach oben in die Kinderstation fuhr. Was Mara wohl sagen würde, wenn er ihr davon erzählte?
Als er durch die Glastüren am Schwesterntresen vorbeilief, sah er, wie sich Mara am Ende des Ganges mit dem Assistenzarzt unterhielt. Steve fuhr über ihr Haar, strich ihre Schultern entlang und zog sie plötzlich in seine Arme.
Bills Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Da hatte sie ihm gestern so eine Szene gemacht und jetzt ließ sie sich von diesem Idioten begrapschen?
Wütend ballte er die Hände zu Fäusten, fuhr auf dem Absatz herum und steuerte Jimmys Zimmer an. Was zum Teufel war nur los mit dieser Frau? Erst wollte sie ihn nicht, dann küsste sie ihn, ging mit einem anderen aus und machte ihm Vorwürfe, dass er sich mit einem Mädchen amüsierte. Und jetzt stand sie da und gab sich diesem Angeber hin.
"Dr. Bill", rief Jimmy fröhlich, als Bill an sein Bett getreten und sich einen Mundschutz aufgesetzt hatte. "Du bist wieder da."
Die Schwester, die Jimmy betreut hatte, stand lächelnd von ihrem Stuhl auf und verabschiedete sich. Mit einem kurzen Blick auf den Monitor vergewisserte sich Bill, dass es Jimmy gut ging. Seine Werte hatten sich normalisiert und auch das freundliche, runde Gesicht hatte ihre gewohnte, wenngleich blasse, Farbe zurück.
"Ich hab nur kurz eine Pause gemacht, aber ich bleibe jetzt bis zum Ende der Schicht hier." Er lächelte, setzte sich auf die weiche Bettkante und schob all seine düsteren Gedanken beiseite. Plötzlich vibrierte sein Handy in der Kitteltasche. Während sich Jimmy aufrichtete und nach dem Buch griff, aus dem ihm Mara vorgelesen hatte, zückte Bill sein Handy. Er hatte eine SMS bekommen.
"Hallo Bill, wir haben uns gestern Abend kennengelernt. Ich hätte Lust auf eine Fortsetzung - hast du heute Abend Zeit?"
Ein Lächeln huschte über Bills Lippen. Sollte er zusagen? Klar, warum nicht. Er hatte keinen Grund, nein zu sagen. Mara turtelte mit "Mr. Perfect" und die nette Lady von gestern war nicht nur attraktiv, sondern auch wirklich sympathisch gewesen.
Also sagte er zu und teilte ihr die Adresse und Feierabendzeit mit, als sie nach einer weiteren SMS mitteilte, dass sie ihn abholte und sie sich dann gern von ihm auf einen Kaffee einladen lassen würde.
Sanft lächelnd schob Bill sein Handy zurück in die Kitteltasche und sah zu Jimmy auf, der in dem Buch herumblätterte und sich die Bilder ansah.
"Entschuldige, Kleiner. Soll ich dir vorlesen?", fragte er nach, doch Jimmy schüttelte den Kopf.
"Was magst du dann tun?"
"Reden."
"Reden?"
Verwirrt sah Bill den Jungen an. Seit wann wollten Kinder einfach reden? Sich schlichtweg unterhalten? Er hatte zwar nicht viel Ahnung von Kindern, aber dass so etwas als Beschäftigungswunsch geäußert wurde, hatte er nicht gedacht.
"Okay, dann . reden wir. Worüber möchtest du denn reden?"
Jimmy kaute nachdenklich auf seiner Lippe herum, ehe er zu strahlen begann und in die Hände klatschte.
"Frag mich was!"
Der Kleine war wirklich außergewöhnlich. Unwillkürlich schmunzelte Bill und strich dem Kleinen eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
"Wie fühlst du dich?"
"Nicht so was!", protestierte Jimmy sofort und lachte. Bill überlegte.
"Was wünschst du dir vom Weihnachtsmann?"
Bill wusste, dass man keinen Patienten bevorzugen sollte, da es sonst nicht nur eine emotionale Bindung bedeutete, sondern auch schlichtweg unfair den anderen gegenüber war. Aber wenn der Wunsch nicht zu teuer war, sondern im Rahmen des Möglichen war, würde er vielleicht versuchen, ihn Jimmy zu erfüllen. Er war einfach bezaubernd und .
"Ich wünsche mir meine Mama und meinen Papa zu besuchen."
Für einen Moment blieb Bill das Herz stehen, ehe es wie wild zu pochen anfing. Es tat weh. Es tat weh, von einem kleinen, krebskranken Jungen, der seine Eltern verloren hatte, so einen Wunsch zu hören. Und dazu war Bill klar, dass dem Kleinen viel früher, als es sein sollte, der Wunsch gewährt werden würde .
Seufzend beugte er sich etwas zu Jimmy vor und strich ihm liebevoll lächelnd über die Wange.
"Den Wunsch kann dir wohl nicht einmal der Weihnachtsmann erfüllen. Aber ich verspreche dir . du wirst sie wieder sehen", endete Bill schwer schluckend. Der Kloß in seinem Hals wurde immer größer, vor allem, als der Junge ihn enttäuscht ansah.
"Wieso kann er das nicht? Ich vermisse meine Mama und meinen Papa ."
Bill seufzte leise und zuckte mit den Schultern:
"Weißt du", begann er, "der Weihnachtsmann ist kein Zauberer, auch wenn er in einer Nacht um die ganze Welt reist. Er kann vieles, aber er kann einen Menschen nicht zurückholen, der schon im Himmel ist." Es war eine lahme Erklärung, dessen war Bill sich bewusst. Dennoch hoffte er, dass sich auch ein so schlaues Kind wie Jimmy damit zufrieden geben würde.
"Schade", murmelte er leise, schien Bills Worte aber anzunehmen.
Bill blickte hinaus aus dem großen Fenster, das in den Innenhof zeigte. Rote und gelbe Farben durchzogen den Himmel und kündigten den Abend an. Es hatte wieder zu schneien begonnen, doch das sanfte Fallen der federleichten Flocken vermochte Bills aufgewühltes Herz nicht zu beruhigen. Dennoch zwang er sich zu einem Lächeln:
"Hast du noch einen anderen Wunsch?"
Der Junge überlegte einen Moment und nickte schließlich:
"Ich hätte gern ein Buch mit Noten, damit ich noch mehr Gitarre spielen üben kann. Mara hört mir immer zu und freut sich, wenn ich etwas Neues gelernt habe. Aber in dem Buch", er griff nach seinem Weihnachtsbuch, "sind nur drei Lieder drin und die kann ich schon. Willst du mal hören?"
Bill nickt, stand auf und reichte ihm die Gitarre. Etwas unsicher und umständlich griff Jimmy die Akkorde und spielte "Oh holy night".
"Wie oft ist Mara eigentlich hier?", fragte Bill.
"Jeden Tag", antwortete Jimmy. Überrascht runzelte Bill die Stirn:
"Auch am Wochenende?"
Der Junge nickte und verzog das Gesicht, als er sich verspielte:
"Ja! Sie hat gesagt, dass sie mich nicht einen Tag allein lässt."
Alle Achtung ... Jetzt war Bill in der Tat ein wenig erstaunt, aber auch besorgt. Er war vielleicht der Letzte, der das denken sollte, denn er war nicht viel besser, aber Mara hing viel zu sehr an dem Kleinen.
Wenn Bill ehrlich war, war das der schwierigste Punkt in diesem Beruf: Die emotionale Bindung. Man sollte und durfte keine Bindung zu Patienten aufbauen. Klar, es war menschlich, aber Menschlichkeit war in diesem Beruf oftmals nicht gut. Es war schlecht, wenn man zu den Patienten eine Bindung aufbaute und man mit ihnen mitlitt, denn das brachte unter Umständen unprofessionelle Handlungen, die auch schaden konnten. Außerdem litt dann die Konzentration unter dem Kummer und den Sorgen und somit auch die anderen Patienten.
Klar, man sollte nicht kalt, abweisend oder ähnliches sein, aber Mara übertrieb es. Und er musste sich eingestehen ... er auch.
Bill seufzte und fuhr sich durch die Haare.
"Jimmy, ich ... mache dann mal langsam Feierabend, ja? Ich habe noch etwas zu klären. Ich schicke dir aber gleich eine Schwester herein, wenn du willst, da bist du nicht alleine."
Der Junge lächelte und nickte.
"Okay, Dr. Bill! Kommst du mich morgen wieder besuchen?"
"Natürlich, Kleiner."
Bill lächelte und wuschelte dem Kleinen durch die Haare, bevor er aufstand und schweren Herzens das Zimmer verließ.
Den Rest der Schicht trug er einige Aufzeichnungen in Jimmys Akte ein, heftete die Ausdrucke des EKGs ab, an das er angeschlossenen war, und bereitete Emilys Entlassung vor.
"Nach Hause, nach Hause", rief sie vergnügt und tänzelte durch den Flur.
George schnappte sie, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und bat sie, etwas leiser zu sein.
"So, das ist dann alles", sagte Bill und reichte ihm die Entlassungspapiere.
Emily zappelte so wild auf Georges Armen, dass er zwei Anläufe brauchte, um sie entgegen zu nehmen.
"Und wir sehen uns morgen früh zum Backen? Gustav besorgt alles und bringt es nachher vorbei."
Bill nickte, streckte die Hand nach Emily aus und knuffte sie in die Wange:
"Aber diesmal lässt du den Papa die heißen Bleche rausnehmen, ja?"
Emily kicherte, nickte artig und beugte sich vor, um Bills Stirn zu küssen:
"Bis morgen, Onkel Bill."
Als die beiden gegangen waren und Bell Tom eröffnet hatte, dass sie abermals die Schicht einer Kollegin übernahm, und Bill ihm erzählte, dass er eine Verabredung mit der Tänzerin hatte, auf die er jetzt wartete, hatte Tom kurzerhand Gustav eingeladen und sich bei ihm eingeladen.
"Bis nachher, Brüderchen", sagte Tom und verabschiedete sich vor dem Hauptausgang von seinem Bruder. Bill winkte ihm zum Abschied, zog den Kopf zwischen Kragen und Schultern und hielt nach seinem Date Ausschau, als Mara plötzlich in die Kälte trat.
"Oh", machte Bill und ärgerte sich darüber, dass sein Herz in den gewohnten Sprint verfiel, wenn er sie sah.
Zu seinem Erstaunen lächelte sie:
"Ich dachte, du bist schon weg."
"Nein", antwortete er knapp und blickte zu Boden. Er wollte nicht mit ihr reden - sollte sie doch zu Steve gehen.
"Nun, dann habe ich ja Glück." Mara lachte nervös. "Ich wollte dich nämlich fragen, ob du Lust hättest, noch einen Eislaufversuch mit mir zu wagen?"
Bill stockte der Atem und sein Herz beeilte sich noch mehr, um als erstes zum unsichtbaren Ziel zu gelangen.
Am liebsten hätte er sofort zugesagt, aber zum einen war er mit seiner Bekanntschaft von gestern Abend verabredet, zum anderen war er kein Idiot, den man immer so behandeln konnte, wie es einem gerade recht war. Es tat weh, so zu denken, aber es war doch nun mal so.
"Ich ... also weißt du ..."
Er wusste nicht, was er sagen sollte - und im nächsten Moment erübrigte es sich auch schon.
"Bill! Huhu, ich bin hier!"
Erschrocken fuhr er herum und sah das hübsche Mädchen auf sich zueilen.
"Hi!", lächelte er freundlich und bekam einen Kuss auf die Wange gedrückt.
Bill konnte sehen, wie ihr sprichwörtlich die Gesichtszüge entglitten. Ihre Augen waren weit geöffnet und gaben einen Blick frei, den Bill nicht zu deuten vermochte.
Mel räusperte sich und trat auf Mara zu:
"Hallo, ich bin Mel. Arbeitest du auch hier?"
Mara blinzelte und versuchte das Lächeln zu erwidern, doch es misslang kläglich. Was hatte sie denn erwartet? Dass Bill nach ihrer Schmuserei mit Steve wieder auf sie einredete? Er hatte sich vorgenommen zu kämpfen, doch im Moment war er es leid. Mara musste selbst erst erfahren und realisieren, was sie fühlte und so lange würde Bill sich jedenfalls nicht immer und immer wieder das Herz aus der Brust reißen lassen, in der Hoffnung, Mara würde jetzt wissen, was sie wollte.
"Ja, Bill und ich sind Kollegen", antwortete Mara, als sie sich wieder gefangen hatte. "Könntest du ihn mir noch für eine Minute leihen? Ich wollte noch eine Patientensache mit ihm klären."
Mel nickte, warf ihr schönes Haar über die Schultern und deutete ins Krankenhausinnere:
"So lange werde ich mal nach den Toiletten suchen."
"Da vorne links", sagte Bill und deutete in die ungefähre Richtung. Nachdem Mel gegangen war, verschränkte er die Arme vor der Brust und sah sie an. Sein Herz schlug schnell und er hatte Mühe, gleichmäßig zu atmen. Aus irgendeinem Grund hatte er das Gefühl, Mara verraten zu haben, doch wenn er ehrlich war, tat er im Grunde nur, was sie auch tat.
Mara holte tief Luft und lächelte bitter:
"Du bist wirklich unmöglich" Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, doch sie war so schneidend, dass sie in Bills Ohren schmerzte. Bitterkeit, Vorwurf und Trauer lagen in ihren Augen und schnürten Bill die Kehle zu. "Weißt du, wie viel Überwindung es mich gekostet hat, dich zu fragen?"
Bill schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter. Wie gern hätte er gelächelt, sie in seine Arme gezogen und gebeten, ihm zu verzeihen. Doch dunkle Schatten hatten sich auf sein Herz gelegt. Warum nur trieb sie ein Spiel mit ihm? Vor ein paar Stunden noch hatte sie sich an diesen Angeber geworfen und jetzt wollte sie mit Bill ausgehen?
"Wenn es dich Überwindung gekostet hat, dann kann es ja irgendwie nicht richtig sein", sagte er leise und blinzelte, als er kühle Schneeflocken auf seinen Wangen spürte. Es hatte begonnen zu schneien und mit jeder Flocke, die fiel und die Luft abkühlte, wurde auch sein Herz kälter. "Ich weiß ja nicht, was das werden soll, Mara, aber ich bin nicht der Typ, den du an einer Hand halten kannst, während du an der anderen noch einen hast. Und ehrlich gesagt habe ich auch keine Lust mehr, jeden Tag aufzustehen, an dich zu denken und zu hoffe, dass du dieses Mal doch feststellen könntest, dass du mich magst. Du warst eine Herausforderung, die ich gerne angenommen habe, aber inzwischen spielst du mit unfairen Mitteln."
"Eine Herausforderung", lachte sie bitter. "Na wenn ich nichts weiter war, dann hat es sich ja sowieso erledigt!" Ein bitterer Blick ins Leere, dann drehte sie sich um. Im nächsten Moment packte Bill sie aber am Handgelenkt und zog sie zurück.
"Du weißt, was ich für dich empfinde, aber ich kann nicht mein ganzes Leben nach dir richten, wo du mir ja nicht einmal eine Chance gibst! Ein Kuss - du bist sauer und haust ab. Ein zweiter Kuss - das gleiche Spiel von vorn. Ich bin nicht im Kindergarten, Mara. Irgendwann verstehe selbst ich es, wenn man mich abweist!"
"So, da bin ich wieder. Können wir?" Mel kam aus dem Gebäude und lächelte die beiden an. Sie strahlte so offen und herzlich, dass es wohl jedem das Herz erwärmte, der sie so sah.
"Ja, wir können."
Mit einem letzten Blick auf Mara, ergriff Bill die Hand seines Dates und lief mit ihr los, ohne seine eigentliche Herzensdame noch eines Blickes zu würdigen. Es schmerzte, ja, aber lieber spielte er mit offenen Karten, anstatt wie Mara, ständig die Hand zu wechseln .
Gemütlich schlenderte er mit Mel ein wenig durch die Stadt und unterhielt sich mit ihr, bis sie eine halbe Stunde später bei einem Café ankamen, für welches sie sich entschieden. Es war hell, sah gemütlich aus und war herrlich weihnachtlich geschmückt. Dicke Girlandenzweige säumten die Fenster und auf jedem Tisch stand eine kleine Kerze, während aus den Lautsprechern traditionelle Weihnachtlieder erklangen.
"Zwei Kaffee bitte!", orderte Bill und setzte sich Mel gegenüber, die ihn die ganze Zeit über anlächelte.
Mel war nett, offenherzig und ungemein sympathisch. Sie mochte nicht so klug sein wie Mara, aber dafür war sie auch weniger kompliziert.
"Und dann hab ich beschlossen, Medizin zu studieren", endete Bill, nachdem Mel ihn gefragt hatte, wie er zum Medizinstudium gekommen war. Sie schien sich wirklich für ihn zu interessieren und war eine ausgesprochen gute Zuhörerin - und dennoch - immer wieder erwischte er sich dabei, wie sich seine Gedanken den Weg zu Mara suchten. Der entsetzte Ausdruck in ihren Augen, der Schmerz auf ihren Zügen - wenn er es nicht besser wüsste, hätte er behauptet, dass sie eifersüchtig war, verletzt und erschüttert. Aber er wusste auch, dass es unrealistisch war, immerhin hatte sie ihm noch vor ein paar Tagen gesagt, dass es keinen Klick gegeben hatte.
"Bill?" Mels Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.
"Hm", machte er und sah sie fragend an. Er spielte an dem Henkel seiner Kaffeetasse und wünschte sich mit einem Mal Mara her.
"Hast du mir gar nicht zugehört?", fragte Mel und lächelte nachsichtig. "Wo bist du denn mit deinen Gedanken?"
Er sah ihr entschuldigend in die Augen. Es tat ihm leid . Eigentlich nutzte er Mel nur aus. Als Ablenkung und als Rache für Mara, weil sie sich ebenfalls jemanden gesucht hatte.
Es war nicht seine Art und er kam sich in diesem Moment vor, als sei er wieder ein Kind und Tom hatte ihm seinen Teddy weggenommen. Dann hatte er sich auch immer etwas anderes gesucht, was er hoch angepriesen und als besser dargestellt hatte, damit Tom das Interesse an dem eigentlichen Objekt seiner Begierde verlor. So war es jetzt mit Mara und Steve.
Er war so bescheuert.
"Hör mal, Mel, ich . denke ich sollte jetzt gehen. Du bist wirklich nett, ich mag dich und ich würde mich freuen, wenn wir Freunde werden können, aber mehr, worauf das hier ja hinauslaufen sollte, ist da nicht. Ich kenne ein Mädchen, das ich wirklich sehr mag. Nur hatte ich bisher nicht das Glück, dass ich es erwidert bekam. Du warst eigentlich nur ein Vorwand, um mich abzulenken und ihr zu zeigen, dass sie mir nicht so wichtig ist, wie ich es sonst gezeigt hab. Das ist kindisch und dumm und es tut mir leid. Ich wollte dich nicht dafür missbrauchen. Ich hoffe, du ..."
"Ist okay", unterbrach Mel ihn und lächelte weiterhin.
"Ich habe es mir fast denken können. Du bist oft mit den Gedanken abgeschweift und schienst nicht so recht anwesend. Gestern und heute auch. Es ist das Mädchen von vorhin, oder? Weißt du . Ich kenn das. Es ist nicht schön, wenn man jemanden liebt und das nicht erwidert wird und ich weiß, dass man sich dann gern ablenken möchte. Es ist nicht schön, was du gemacht hast, richtig. Aber ich denke du bist dennoch ein netter Kerl und weißt du was? Ich glaube so schlecht stehen deine Chancen bei ihr gar nicht." Überrascht runzelte Bill die Stirn:
"Meinst du?"
Mel nickte und zuckte gleichzeitig mit den Schultern:
"Frauen haben manchmal sehr eigenwillige Wege, ihre Gefühle zu zeigen." Sie hob die Hand und bedeutete einem Kellner, dass er die Rechnung bringen sollte. "Du solltest vielleicht nochmal mit ihr reden." Mit einem Grinsen fügte sie hinzu: "Und weil du mich so furchtbar gemein ausgenutzt hast, musst du mich einladen."
Bill erwiderte ihr Grinsen und ließ sich die Rechnung reichen:
"Natürlich!"
Bill war erleichtert, dass Mel so unkompliziert reagiert hatte. Er bedankte sich für das nette Gespräch und brachte sie zur Busstation am Rockefeller Center.
"Mach's gut, Bill", rief sie und schlüpfte lachend in den Bus.
Seufzend und unschlüssig drehte er sich um und lief weiter. Er selbst wollte noch nicht nach Hause gehen. Tom war mit Gustav unterwegs und bei all seinem Gedankenchaos würde Bill in der Stille der Wohnung vermutlich die Decke auf den Kopf fallen. Und so lief er weiter, an den duftenden Ständen vorbei, auf den riesigen Weihnachtsbaum hinter der Eislaufbahn zu. Tausend Lichter funkelten auf seinen mit Schnee bestäubten, mattgrünen Zweigen und spiegelten sich in den riesigen, goldenen Kugeln.
Weihnachtsmusik dudelte aus den Lautsprechern vor der Eisfläche und sollten die Besucher in Stimmung bringen, doch sie verstärkte Bills Missmut. Ob Mel rechthatte?
Auf Höhe des Weihnachtsbaumes blieb er stehen, legte die Hände auf die Bande und überflog die helle Eisfläche. Er blickte in glückliche, unbeschwerte Gesichter und wünschte sich, einer unter ihnen zu sein.
Seine Augen blieben an einem Hinterkopf hängen, unter dessen heller Mütze ein brauner Pferdeschwanz hervorlugte. Das schlanke Mädchen stolperte mehr, als das es lief.
Bill schnappte nach Luft, als sie sich umdrehte und er Maras schönes Gesicht erkannte.
Sie sah ihn allerdings nicht und versuchte weiter darin, sich elegant über die Eisfläche zu bewegen. Es gelang ihr allerdings in keiner Weise. Viel mehr sah sie aus wie ein ungeschickter Trampel.
Bill schmunzelte. Irgendwie war das süß. Im nächsten Moment schreckte er allerdings auf, als die Studentin ihr Gleichgewicht verlor und stürzte. Einen Moment blieb sie stillliegen, ehe sie sich in eine sitzende Position aufrichtete. Bill sah mit schmerzendem Herzen zu, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie sah allerdings nicht aus, als hätte sie so starke Schmerzen und würde deswegen weinen, sondern vielmehr, als wäre sie schlichtweg überfordert.
Schluchzend vergrub sie ihr Gesicht in ihren Händen und begann zu zittern.
Bill reichte es. Er eilte zur Schlittschuhausgabe, ließ sich ein Paar geben und zog diese an, bevor er samt seiner Tasche auf die Eisfläche stieg. Er hoffte, dass seine Schuhe nachher noch vor der Eisfläche stehen würden, wenn nicht, hatte er Pech. Das war ihm gerade egal, viel wichtiger war ihm im Moment Mara, die noch immer auf dem Boden saß und herzzerreißend zu weinen schien.
Rasch fuhr Bill über die Eisfläche, bis er hinter Mara zum Stehen kam. Sanft legte er seine Hand auf ihre Schulter.
"Lassen Sie mich, ich will meine Ruhe!", schluchzte sie und versuchte die Hand abzuschütteln, aber Bill ließ nicht locker. Vorsichtig kniete er sich auf den eisigen Boden und legte dann seine Arme um sie.
"Starke Mädchen weinen doch nicht und stehen immer auf, wenn sie fallen. Und ich bin mir sicher, dass du stark bist, das zeigst du auf Arbeit oft genug ." Überrascht hob sie den Kopf:
"Bill?" Ungläubig sah sie ihn an, wischte sich mit dem behandschuhten Handrücken übers Gesicht und schniefte.
Bill lächelte, löste sich von ihr und nickte:
"Hey." Sanft strich er ihr über die Wange und half ihr etwas umständlich auf.
"Was . was machst du denn hier?", schniefte sie und krallte sich unsicher an Bills Mantel fest.
"Ich . hör zu, Mara, es tut mir leid. Was ich vorhin gesagt habe, meinte ich nicht so. Ich war nur so . so eifersüchtig, weil du mit Steve rumgemacht hast und-"
Überrascht hob Mara die Augenbrauen:
"Ich habe nicht mit ihm rumgemacht." Verlegen wandte sie den Blick von ihm ab und ließ die Arme sinken. "Ich habe ihn gebeten, nur befreundet zu sein. Steve ist nett, aber ich mag ihn nicht so, wie er mich."
Verwirrt und skeptisch lüpfte Bill eine Augenbraue. Das sah gestern aber ganz anders aus! Und das sagte er ihr auch.
"Du hast gestern mit ihm geschmust, ihn geküsst und bist mit ihm ausgegangen. Ich kann nicht sagen, dass es aussah, als seid ihr nur Freunde und du sagtest ja auch, dass es ein Date ist. Oder hast du mich belogen?"
Sofort legte sich eine dunkle Röte auf die Wangen der hübschen Brünetten. Vorsichtig ließ sie sich an die Eisflächenplanke ziehen und hielt sich dort fest.
"Ja, ich ... Habe ihn geküsst und seine Hand gehalten und ... vielleicht habe ich auch ein bisschen geschmust, und nein, ich habe dich nicht angelogen, es war wirklich ein Date, nur ... Bill, ich war so verwirrt. Die ganze Zeit flirtest du mich an und ich fühle nichts, und dann auf einmal tut sich doch irgendwie etwas ..."
Sie schluckte, als sie verlegen und unsicher auf den Boden sah. Abermals stiegen ihr Tränen in die Augen.
Aber es tat ihrer Schönheit keinen Abbruch. Bill war einfach fasziniert von ihr. Er konnte nicht verstehen, wie eine Person so schön sein konnte, selbst, wenn sie traurig war und litt.
Sanft legte er einen Finger unter ihr Kinn und hob so ihr Gesicht und ihren Blick an. Sanft lächelte er ihr ins Gesicht und fühlte eine Explosion in seinem Bauch, die nicht hätte schöner sein können. Die Druckwelle erreichte sein Herz, welches so hastig losklopfte, dass es nur mit Müh nicht ins Straucheln kam.
Es war unglaublich. Sie fühlte tatsächlich etwas für ihn. Irgendwie. Vielleicht nicht die große Liebe und vielleicht auch überhaupt keine richtige Liebe, aber zumindest ein wenig verliebt schien sie zu sein. Jetzt hatte er endlich etwas, worauf er aufbauen konnte, was er in ihr weiter entfachen konnte.
Ein zartes Lächeln huschte über seine Lippen, als er erkannte, wie unsicher sie ihn ansah, und er sich langsam zu ihr vorbeugte, um ihr sanft seine Lippen aufzudrücken.
Dieses Mal war es anders, denn mit einem Male spürte er, wie sich Mara in den Kuss lehnte und ihn erwiderte. Tausend Funken stoben in Bills Magen, entflammten sein Herz und beflügelten seinen Geist. Wie viele Tage hatte er darauf gewartet? Wie sehr hatte er sich gewünscht, dass dieser Augenblick kam? Nun war er hier und Bill hätte glücklicher nicht sein können.
Lächelnd löste er sich von ihr, strich über ihre geröteten Wangen und griff dann nach ihrer Hand:
"Was meinst du? Sollen wir noch ein bisschen üben?", fragte er und deutete auf die Eisfläche.
Sie zögerte, nickte dann aber und erwiderte den Händedruck für einen Moment, ehe sie sich von Bill wieder inmitten auf die Eisfläche ziehen ließ.
Unsicher schwankten ihre Beine immer wieder auseinander und zusammen, hinterließen wellenartige Spuren auf dem schon recht geschundenen Eis.
"Versuch mehr Kraft in deine Beine zu setzen, eben ... mehr Kontrolle über sie zu haben", lächelte Bill und nickte auffordernd, als Mara ihn ansah, als würde sie nicht glauben, dass sie es schaffte. Schüchtern nickte sie und sah auf ihre Beine. Zuerst änderte sich nichts, aber dann stellte Bill tatsächlich eine Besserung fest.
"Und versuch auch die Schritte nicht so kurz zu machen. Nicht, wie beim Laufen, sondern versuch die Schritte quasi etwas ausgleiten zu lassen. Ähnlich wie beim Skaten, solltest du das schon mal gemacht haben!"
Abermals nickte Mara und wurde von Bill beobachtet. Sie tat sich wirklich ungeschickt, aber er konnte auch feststellen, dass sie tatsächlich seine Ratschläge berücksichtigte und es zumindest bedingt schaffte, sie umzusetzen.
Bill hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Er konnte nicht sagen, ob sie erst ein paar Minuten oder schon ein paar Stunden auf dem Eis gefahren waren. Es war, als hätte die Zeit ihre Bedeutung verloren, wenn er mit Mara zusammen war. Zumindest aber spürte er an seinen unterkühlten Beinen, dass es längst Zeit war, eine Pause einzulegen und sich aufzuwärmen.
"Was hältst du von einem Glühwein?", fragte er und deutete auf einen der zahlreichen Stände. Erst jetzt war ihm aufgefallen, dass er Mara noch von seinem waghalsigen Versuch erzählen musste, das Weihnachtsfest auf der Kinderstation zu retten und sie gegebenenfalls zu bitten, sich zu beteiligen. Vielleicht könnte er sie für morgen sogar zum Plätzchenbacken einladen.
"Ich halte viel davon!", schmunzelte sie und ließ sich von Bill von der Eisfläche ziehen. Zu dessen Erleichterung standen seine Schuhe tatsächlich noch da. Er zog sie an, während Mara selbst zu ihrem Spint ging und ihre Schuhe anzog und auch ihre Tasche herausholte.
Bill schmunzelte. Das hieß wohl, sie wollte heute nicht noch mal aufs Eis. Aber es war auch genug, wenn man es übertrieb, lernte man auch nicht viel besser.
Einen Moment schluckte er, griff dann aber einfach wieder nach Maras Hand. Innerlich atmete er auf, als sie es tatsächlich wieder zuließ und ihre Hand auch in seiner ließ, anstatt sie wie angenommen, wegzuziehen. Es fühlte sich so herrlich an. So richtig.
Gemeinsam bestellten sie sich zwei Glühweine und setzten sich dann an einen Tisch.
"Du? Es gibt Neuigkeiten was das Weihnachtsfest für die Kinder angeht."
Und so erzählte er ihr, wie er und Tom die Krankenhausleitung überredet hatten, George Spielzeuge und Süßigkeiten organisiert und Gustav alles für ein ausschweifendes Plätzchenbacken besorgt hatte. Zunächst hatte Mara geschwiegen. In ihren Augen lagen Ungläubigkeit und Zweifel, doch dann war sie ihm derart stürmisch in die Arme gefallen, dass Bill seinen Glühwein vor Schreck hatte fallen gelassen. Hunderte Mal hatte sie sich bei ihm bedankt und ihre Freude bekundet, ihm erzählt, sie hätte von ihm niemals ein derartiges Engagement erwartet und schließlich hatte sie gelacht und ihn geküsst. Obwohl sie bereits auf dem Nachhauseweg waren, spürte er den Druck von Maras sanften Lippen noch immer auf den seinen.
"Du musst mich wirklich nicht nach Hause bringen, Bill", sagte sie und griff nach seiner Hand, als sie gemeinsam die Straße zu Maras Studentenwohnheim entlangliefen.
Bill lächelte, fegte den Schnee von ihrer Mütze und zuckte mit den Schultern:
"Ein echter Gentleman macht das so."
Mara kicherte und schüttelte den Kopf:
"Nimm's mir nicht übel, aber mit deinen Piercings und Tätowierungen erfüllst du nicht unbedingt das optische Durchschnittsbild eines Gentlemans." Sie blieb stehen, sah ihn schüchtern an und stellte sich auf die Zehenspitzen, damit sie ihm in die Augen sehen konnte. "Aber ich mag das sehr, denke ich."
"Denkst du?", fragte Bill und zog eine geschauspielerte Schnute.
"Weißt du . ich bin nicht besonders gut in so etwas", gab sie zu und lächelte.
Bill neigte seinen Kopf so weit nach vorn, dass er ihren Atem auf seiner Haut spürte:
"Ich finde, du schlägst dich nicht schlecht."
Eine zarte Röte schlich sich auf ihre Wangen. Aber ihre Schüchternheit tat ihrer Initiative keinen Abbruch. Sie streckte sich noch ein Stück und hauchte Bill einen Kuss auf die Wange.
"Danke, dass du mich gebracht hast. Wir sehen uns morgen, ja?"
Bill nickte verblüfft, hatte seine Hand auf die eben geküsste Wange gelegt und sah dem hübschen Mädchen wie gebannt hinterher.
Sie war so unglaublich süß. Vor allem war der Kontrast von ihrem gestrigen, eher negativen Verhalten zu dem jetzigen, lieben, netten Verhalten, welches sie für gewöhnlich ja auch hatte, so groß. Sie war einfach ... perfekt für ihn.
Kaum war er zuhause angekommen, kam Tom aus dem Wohnzimmer und sah ihn erwartungsvoll.
"Das mit Mel ging in die Hose. Ich hatte ein schlechtes Gewissen und hab ihr die Wahrheit gesagt ...", antwortete Bill auf die unausgesprochene Frage. Sein Bruder seufzte bedauernd. "Aber dafür habe ich Mara getroffen und mit ihr gesprochen."
Während Tom zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank holte, erzählte Bill seinem Bruder von dem Gespräch mit Mara, dem Eislaufen und ihrer Freunde darüber, dass sie das Kinderstations-Weihnachtsfest retten würden.
Tom lachte und prostete ihm zu:
"Wie sagt Mum immer? Was lange währt, wird ewig gut? Sie hat wahrscheinlich einfach nur einen Schups gebraucht."
Sie redeten bis tief in die Nacht hinein, sammelten Ideen für die Weihnachtsfeier und schliefen schließlich vor dem Fernseher ein.
Bill lächelte unglücklich.
"Tut mir leid", sagte er leise und ließ sie los. Er verstand dieses Mädchen nicht. Was immer Bill tat, schien ihr das Falsche zu sein, wann immer er einen Schritt auf sie zuging, lief Mara einen zurück.
"Ich . ich sollte jetzt gehen", sagte sie leise, lächelte flüchtig und drehte sich um. Ehe Bill begriffen hatte, was geschehen war, war sie auch schon zwischen den eng tanzenden Körpern verschwunden und ließ die Leere zurück, die Mel wenigstens vorübergehend gefüllt hatte.
Schlecht gelaunt kämpfte er sich zu Gustav, George und seinem Bruder.
"Ich werde nach Hause gehen", sagte er, "aber bleibt ruhig noch hier."
Tom blickte seinen Bruder stirnrunzelnd an.
"Soll ich mitkommen?"
Bill schüttelte den Kopf und zwang sich zu einem Lächeln, obgleich er wusste, dass Tom es durchschauen würde.
"Nein, amüsiere dich mal, Tommy."
Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ er die Tanzfläche, steuerte die Garderobe an und ließ sich seine Jacke geben. Als er das Center verließ, zog er den Kopf zwischen Mantel und Schultern, denn der Wind blies eisig.
Bill gab sich alle Mühe, das Chaos in seinem Kopf zu ordnen, während er zur Bushaltestelle lief, doch es wollte ihm nicht recht gelingen. Was war nur mit Mara los, verdammt nochmal? Wenn sie eifersüchtig war, dann sollte sie als Medizinerin doch wissen, dass ihr Körper ihr damit signalisierte, dass sie Bill gegenüber etwas empfand. Wahrscheinlich wusste sie das längst und wollte es sich nur nicht eingestehen, weil sie damit ein Stück der Kontrolle über sich verlor, die sie so zwanghaft versuchte, im Griff zu haben.
Bill schüttelte den Kopf, schalte sich nicht herumzuspinnen und spürte bereits jetzt die Schmerzen, die er nach dem ganzen süßen Glühwein, morgen vermutlich in voller Härte mit sich herumschleppen durfte.
Deprimiert fuhren seine Augen über die bunten Lichter, die ihn eigentlich freudig stimmen sollten, doch seine Kopfschmerzen nur verstärkten.
Als er in den Bus einstieg, zwang er sich, in Gedanken ein paar lateinische Bezeichnungen der menschlichen Knochen aufzusagen, nur um sich von Mara abzulenken. Das tat er, bis er zu Hause angekommen und ins Bett gegangen war, bis sein Körper schließlich sein Recht einforderte und ihn in einen tiefen traumlosen Schlaf fallen ließ.
Als Bell, Tom und er am nächsten Morgen auf dem Weg zur Arbeit waren, war Bill mehr als unwohl. Nicht nur, dass sein Körper ihm den Glühwein in Form von leichten Kopfschmerzen zurückzahlte, sondern auch weil ihm klar war, dass das mit Mara heute vermutlich nicht besser werden würde. Sie war gestern gegangen, hatte ihn einfach stehen lassen, nachdem er ihr die Standpauke verpasst und er sie geküsst hatte. Es war unangenehm. Aber er konnte den gestrigen Abend nicht rückgängig machen und musste nun mit den Konsequenzen leben. Er hatte zwar jedes Wort ehrlich und nicht unbedingt böse gemeint, aber es würde ihn nicht wundern, wenn Mara seine Chancen nun gänzlich auf Null gesenkt hatte. Wenn das nicht sowieso schon der Fall war . Wobei sie auf seine Bitte noch einmal mit ihm Schlittschuhlaufen zu gehen, eingegangen war. Das tat man doch nicht bei einer Person, von der man wusste, dass sie einen liebte, oder? Es hieß doch eigentlich, dass sie ihm wirklich eine kleine Chance geben wollte. Der erste Kuss, der ja von ihr ausgegangen war, sagte doch sein Übriges über ihr Inneres. "Bill, alles okay? Wir sind da!", tippte Tom ihn am Arm an und riss ihn aus den Gedanken. Verwirrt sah Bill auf und nickte dann. Ja, es war alles okay. Hoffte er zumindest. Wenn er ehrlich war, wusste er im Moment nicht, wie es ihm ging, ob alles okay war und überhaupt . Er wollte eigentlich nur nach Hause, in seinem Bett liegen und weiter schlafen. Ächzend stieg er aus dem Auto und wischte sich über die Stirn. Am liebsten hätte er sich krankschreiben lassen, aber er wollte seine Kollegen und auch die kleinen Patienten, nicht im Stich lassen. Noch bevor er die Glastüren zur Station zu Gänze aufgestoßen hatte, nistete sich ein ungutes Gefühl in seine Magengrube. Unsicherheit und Nervosität gruben sich tief in seine Eingeweide, begleitet von dem bitteren Geschmack einer schlechten Vorahnung. Vor Zimmer 5a hatte sich eine kleine Menschentraube gesammelt. Schwester und Ärzte eilten hinein und wieder hinaus. Ihre Mienen waren zwar nicht ernsthaft besorgt aber beunruhigt. "Was ist hier los?", fragt er eine der vorbeieilenden Schwestern. Diese lächelte etwas mitleidig. "Es ist Jimmy", antwortete sie, "seine Werte haben sich heute Nacht wieder verschlechtert und er verträgt die Medikation nicht. Im Moment geht es ihm wieder besser, aber ich fürchte, seinen Chancen sind nicht mehr allzu gut." Bills Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Hastig schob er die Schwester beiseite und drängte sich an den anderen vorbei, in Jimmys Zimmer. Er ignorierte die überraschten Blicke der zwei Ärzte, die an seinem Bett standen. Jimmy selbst war kreideweiß, dunkle Schatten lagen unter seinen Augen und verrieten, dass er wohl nur wenig geschlafen hatte. In seinen Armbeugen hatten sich dunkle Hämatome gebildet und unter der Nase lag ein Schlauch, der seine Atmung unterstützte. "Bill, was tun Sie hier?", fragte der Stationsarzt Dr. Hopper. "Ich . ähm . entschuldigen Sie", murmelte er und rang um eine vernünftige Antwort, als plötzlich Mara hinter ihm ins Zimmer trat und ihm die Hand auf die Schulter legte. "Jimmy hat einen sehr guten Zugang zu Bill gefunden", erklärte sie und lächelte, "ich denke, Jimmy würde es besser gehen, wenn er hier ist, stimmt's Jimmy?" Der kleine Junge nickte schwach. Auf seine blassen Lippen legte sich ein Lächeln, das Bills Herz zu brechen drohte.
Dr. Hoppe seufzte.
"Also gut, Bill", sagte er und bedeutete ihm, näher zu kommen. "Ich will, dass Sie seine Vitalzeichen überwachen und in zwei Stunden Blut abnehmen. Dann messen Sie Fieber und bitte achten Sie darauf, dass es im Zimmer nicht zu kühl wird und alle Schwestern einen Mundschutz tragen. Wir können es uns nicht leisten, dass er auch noch einen Infekt bekommt."
Bill nickte, desinfizierte sich sofort die Hände und ließ sich einen Mundschutz geben. Dann nahm er Jimmys Bett Platz.
"Na Kumpel!"
Jimmy lächelte und wartete, bis die Ärzte und Schwestern das Zimmer verlassen hatten. Grinsend sagte er:
"Dr. Bill!"
"Was jagst du uns denn für einen Schrecken ein, hm?" Bill warf einen kurzen Blick auf den Monitor, der leise vor sich hin piepte. Seine Werte waren nicht besonders berauschend, aber Bill war sicher, dass sie sich wieder normalisieren würden, wenn Jimmy etwas schlief und seinem Körper Ruhe gönnte.
Als sich hinter ihm etwas bewegte, schreckte er zusammen. Er hatte vergessen, dass Mara noch hier war. Sie lief um ihn herum und strich über Jimmys kühle Stirn.
"Tut mir Leid", sagte er leise und lächelte entschuldigend.
"Nicht doch, Jimmy", flüsterte Mara. Auch wenn sie sich alle Mühe gab, es sich nicht anmerken zu lassen, wusste Bill, dass Mara ihre Tränen mit aller Macht zurückhielt. "Du brauchst dich nicht entschuldigen. Sag, findest du es gut, wenn Bill jetzt bei dir bleibt?"
"Geht das denn? Du hast doch noch andere Patienten", murmelte Jimmy und gähnte.
Bill setzte zu einer Antwort an, doch Mara kam ihm zuvor:
"Dr. Hopper hat es doch so angeordnet, Jimmy, und außerdem kann ich Bills Aufgaben erledigen."
Überrascht sah Bill sie an. Auch wenn er ihr Gesicht unter dem Mundschutz nicht so gut sehen konnte, sah er doch die Aufrichtigkeit und die Sorge in ihren Augen.
"Danke", sagte er leise. Als Mara seinem Blick begegnete, verkühlte er sich - sie war ihm also wirklich noch böse.
"Keine Ursache", antwortete sie, streichelte noch einmal über Jimmys Wange und verließ dann das Zimmer.
Seufzend sah Bill ihr einen Moment nach und wandte sich dann wieder an Jimmy, der erschöpft seine Augen geschlossen hatte.
"Ja, schlaf am besten ein bisschen, das wird dir gut tun!", wisperte er leise und strich dem Jungen sanft durch die Haare und über die leicht erhitzte Wange. Jimmy reagierte auf seine Worte nicht, seufzte lediglich leise und drückte sich ein wenig der sanften Hand entgegen. Bill kamen beinah die Tränen. Der Kleine tat ihm so unglaublich leid. Er war so jung, hatte jetzt schon keine Familie mehr und war sterbenskrank. Und so kurz vor Weihnachten, ging es ihm zu allem Übel auch noch so schlecht. Womit hatte Jimmy das verdient? Das Leben war nicht fair .
Seufzend zog Bill seine Hand vorsichtig weg, als er bemerkte, dass der Junge tatsächlich eingeschlafen war, und lehnte sich zurück. Er würde hier bleiben und dem Kleinen beistehen, ihn bewachen, sollte der Tod ihn doch plötzlich einholen wollen. Jimmy hatte noch ein paar Wochen, Monate, vielleicht sogar Jahre vor sich. Er würde nicht zulassen, dass er jetzt schon sterben würde. Ein leises Klopfen erklang und Bill zuckte zusammen. Er war nach dem Blutziehen und Fiebermessen selbst beinah eingeschlafen und hatte das nicht einmal bemerkt. Hektisch sah er auf die Uhr, die ihm deutlich machte, dass es bereits fast Mittag war. Dann huschte sein Blick zu den Geräten, die ihm zeigten, dass Jimmy nur schlief.
Leise stand Bill auf und ging zur Tür, die er öffnete. Der Kleine sollte noch schlafen, da würde er nicht durch das Zimmer brüllen, dass der Besucher hereinkommen durfte.
Zu Bills Überraschung stand Georg vor der Tür und lächelte ihn an. Mit einem prüfenden Blick schob der sich an ihm vorbei und folgte ihm letztendlich ans Bett, wo er sich auf den Stuhl fallen ließ, während Bill sich sachte auf die Bettkante setzte, ihm einen Mundschutz und Desinfektionsmittel reichte.
"Bist du zu einem Ergebnis gekommen?", hakte Bill flüsternd, aber neugierig nach.
Georg lächelte und nickte.
"Ich war ein paar Stunden unterwegs und habe einige Nerven gelassen, aber . Ja. Ich habe bei drei Spielzeugläden Erfolg gehabt. Ihr bekommt ein paar Kuscheltiere, Spielzeug und so was. Allerdings müsstet ihr mit irgendeiner Bescheinigung, dass ihr vom Krankenhaus seid und die Spenden für die Kinder sind, hingehen und die Sachen abholen. Kann ja sonst jeder hinkommen und denen irgendwelche Märchen erzählen, ist klar. Die Sachen sind ab morgen Mittag abholbereit. Uuuuund ich habe auch gleich bei Süßigkeitenläden nachgefragt und bin bei einem erfolgreich gewesen. Von da aus bekommt ihr ein paar Schoko- und Zuckernaschereien und Kekse und Kakao, aber natürlich auch nur mit Bescheinigung. Die Sachen sind wie das Spielzeug, ab morgen Mittag abholbereit."
Erleichtert atmete Bill auf:
"George, du bist ein Genie!"
George grinste und machte eine wegwerfende Geste:
"Kinder sind der wahre Reichtum des Lebens, Bill, und für sie ist keine Mühe zu groß. Emily hat gesagt, dass sie mithelfen will, und wenn ihr einverstanden seid, würden wir gern mit euch hier zusammen Weihnachten feiern."
Bill nickte gerührt:
"Natürlich, George!" Dann seufzte er und streckte sich, um die Müdigkeit aus seinen Gliedern zu vertreiben. "Vorausgesetzt, ich bekomme eine Bescheinigung von der Verwaltung. Wenn die sich da auch noch quer stellen, dann haben wir ein Problem."
Ermutigend legte ihm George die Hand auf die Schulter:
"Das wird schon, da bin ich mir sicher. Das Krankenhaus hat keinen Aufwand und muss nichts bezahlen, warum also sollten sie da nein sagen?"
Nachdem Georg gegangen und Bill durch eine Krankenschwester abgelöst worden war, damit er eine Pause machen konnte, schnappte er sich Tom.
"Los, wir gehen zur Verwaltung", sagte er und zog Tom in einen der Fahrstühle.
"Warum machst du das nicht mit Mara?", fragte sein Bruder.
Missmutig erzählte Bill ihm von dem etwas schief gelaufenen Gespräch des gestrigen Abends. Als er geendet hatte, seufzte er tief und zuckte mit den Schultern:
"Ich denke, ich sollte sie erst mal in Ruhe lassen. Wenn sie sich beruhigt hat, dann wird sie hoffentlich zu mir kommen, denn dass sie irgendetwas empfindet, daran gibt es ja jetzt keinen Zweifel mehr."
"Hoffe ich zumindest", hängte er nach einem kurzen Moment noch an. Er wollte nicht zu voreilig sein, immerhin hatte Mara ihn lange genug abgewiesen und er war sich bewusst, dass man sich als verliebter Volltrottel gerne mal etwas einbildete oder schlichtweg falsch deutete.
"Sag mal, weil wir ja jetzt zur Verwaltung gehen . Bisher haben wir nur von den Kindern gesprochen, aber was ist denn mit den Eltern? Die könnte man doch auch informieren, damit sie kommen können, wenn sie wollen, oder? Wäre ja sonst blöd, wenn sie ausgeschlossen werden. Für die Eltern und für die Kinder. Die Frage ist nur, ob wir genug Platz haben, alle unterzukriegen, auch was Stühle und Tische angeht und so."
Fragend sah Tom seinen Bruder an, der nachdenklich die Lippen verzog.
"Ausschließen können wir sie wirklich nicht, sollten wir auch nicht. Das mit dem Platz könnte eng werden, ja. Aber schau mal, es gab doch all die Jahre immer eine Weihnachtsfeier für die Kinder, da war ja auch genug Platz und ausreichend Sitzmöglichkeiten und auch genügend Tische da. Der Besprechungssaal dürfte groß genug sein. So . verdammt, welches Zimmer war das?"
Verwirrt sah Bill den langen Gang entlang. Er war bisher nur selten hier gewesen und die Zimmer waren nur mit Aufgabenbereichen und Namen der darin sitzenden Arbeiter versehen, nicht mit Anliegen, die die Suchenden hatten.
"Der Baler war es, der ist für solche Sachen zuständig!", murmelte Tom. Er sah sich ebenfalls suchend um und lief den Gang entlang, bis er stehen blieb und Bill zu sich winkte.
"Hier!"
Gemeinsam, und mit einer Überzeugungskraft, die jeden in die Knie zwang, überredeten Bill und Tom die Verwaltung. Man sagte ihnen zwar, dass sie für alle Unkosten, die Organisation und die Helfer und Betreuer selbst aufkommen müssten, und alle Mitarbeiter, die keinen Dienst hatten, aber teilnahmen, nicht vergütet würden, aber damit hatte Bill bereits gerechnet.
Nun hieß es Freiwillige finden, die bei der Organisation und dem Weihnachtsfest selbst halfen.
Grinsend rieb sich Bill die Hände, als er - nachdem er sich einen Kaffee und eine Zigarette einverholfen hatte - im Fahrstuhl nach oben in die Kinderstation fuhr. Was Mara wohl sagen würde, wenn er ihr davon erzählte?
Als er durch die Glastüren am Schwesterntresen vorbeilief, sah er, wie sich Mara am Ende des Ganges mit dem Assistenzarzt unterhielt. Steve fuhr über ihr Haar, strich ihre Schultern entlang und zog sie plötzlich in seine Arme.
Bills Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Da hatte sie ihm gestern so eine Szene gemacht und jetzt ließ sie sich von diesem Idioten begrapschen?
Wütend ballte er die Hände zu Fäusten, fuhr auf dem Absatz herum und steuerte Jimmys Zimmer an. Was zum Teufel war nur los mit dieser Frau? Erst wollte sie ihn nicht, dann küsste sie ihn, ging mit einem anderen aus und machte ihm Vorwürfe, dass er sich mit einem Mädchen amüsierte. Und jetzt stand sie da und gab sich diesem Angeber hin.
"Dr. Bill", rief Jimmy fröhlich, als Bill an sein Bett getreten und sich einen Mundschutz aufgesetzt hatte. "Du bist wieder da."
Die Schwester, die Jimmy betreut hatte, stand lächelnd von ihrem Stuhl auf und verabschiedete sich. Mit einem kurzen Blick auf den Monitor vergewisserte sich Bill, dass es Jimmy gut ging. Seine Werte hatten sich normalisiert und auch das freundliche, runde Gesicht hatte ihre gewohnte, wenngleich blasse, Farbe zurück.
"Ich hab nur kurz eine Pause gemacht, aber ich bleibe jetzt bis zum Ende der Schicht hier." Er lächelte, setzte sich auf die weiche Bettkante und schob all seine düsteren Gedanken beiseite. Plötzlich vibrierte sein Handy in der Kitteltasche. Während sich Jimmy aufrichtete und nach dem Buch griff, aus dem ihm Mara vorgelesen hatte, zückte Bill sein Handy. Er hatte eine SMS bekommen.
"Hallo Bill, wir haben uns gestern Abend kennengelernt. Ich hätte Lust auf eine Fortsetzung - hast du heute Abend Zeit?"
Ein Lächeln huschte über Bills Lippen. Sollte er zusagen? Klar, warum nicht. Er hatte keinen Grund, nein zu sagen. Mara turtelte mit "Mr. Perfect" und die nette Lady von gestern war nicht nur attraktiv, sondern auch wirklich sympathisch gewesen.
Also sagte er zu und teilte ihr die Adresse und Feierabendzeit mit, als sie nach einer weiteren SMS mitteilte, dass sie ihn abholte und sie sich dann gern von ihm auf einen Kaffee einladen lassen würde.
Sanft lächelnd schob Bill sein Handy zurück in die Kitteltasche und sah zu Jimmy auf, der in dem Buch herumblätterte und sich die Bilder ansah.
"Entschuldige, Kleiner. Soll ich dir vorlesen?", fragte er nach, doch Jimmy schüttelte den Kopf.
"Was magst du dann tun?"
"Reden."
"Reden?"
Verwirrt sah Bill den Jungen an. Seit wann wollten Kinder einfach reden? Sich schlichtweg unterhalten? Er hatte zwar nicht viel Ahnung von Kindern, aber dass so etwas als Beschäftigungswunsch geäußert wurde, hatte er nicht gedacht.
"Okay, dann . reden wir. Worüber möchtest du denn reden?"
Jimmy kaute nachdenklich auf seiner Lippe herum, ehe er zu strahlen begann und in die Hände klatschte.
"Frag mich was!"
Der Kleine war wirklich außergewöhnlich. Unwillkürlich schmunzelte Bill und strich dem Kleinen eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
"Wie fühlst du dich?"
"Nicht so was!", protestierte Jimmy sofort und lachte. Bill überlegte.
"Was wünschst du dir vom Weihnachtsmann?"
Bill wusste, dass man keinen Patienten bevorzugen sollte, da es sonst nicht nur eine emotionale Bindung bedeutete, sondern auch schlichtweg unfair den anderen gegenüber war. Aber wenn der Wunsch nicht zu teuer war, sondern im Rahmen des Möglichen war, würde er vielleicht versuchen, ihn Jimmy zu erfüllen. Er war einfach bezaubernd und .
"Ich wünsche mir meine Mama und meinen Papa zu besuchen."
Für einen Moment blieb Bill das Herz stehen, ehe es wie wild zu pochen anfing. Es tat weh. Es tat weh, von einem kleinen, krebskranken Jungen, der seine Eltern verloren hatte, so einen Wunsch zu hören. Und dazu war Bill klar, dass dem Kleinen viel früher, als es sein sollte, der Wunsch gewährt werden würde .
Seufzend beugte er sich etwas zu Jimmy vor und strich ihm liebevoll lächelnd über die Wange.
"Den Wunsch kann dir wohl nicht einmal der Weihnachtsmann erfüllen. Aber ich verspreche dir . du wirst sie wieder sehen", endete Bill schwer schluckend. Der Kloß in seinem Hals wurde immer größer, vor allem, als der Junge ihn enttäuscht ansah.
"Wieso kann er das nicht? Ich vermisse meine Mama und meinen Papa ."
Bill seufzte leise und zuckte mit den Schultern:
"Weißt du", begann er, "der Weihnachtsmann ist kein Zauberer, auch wenn er in einer Nacht um die ganze Welt reist. Er kann vieles, aber er kann einen Menschen nicht zurückholen, der schon im Himmel ist." Es war eine lahme Erklärung, dessen war Bill sich bewusst. Dennoch hoffte er, dass sich auch ein so schlaues Kind wie Jimmy damit zufrieden geben würde.
"Schade", murmelte er leise, schien Bills Worte aber anzunehmen.
Bill blickte hinaus aus dem großen Fenster, das in den Innenhof zeigte. Rote und gelbe Farben durchzogen den Himmel und kündigten den Abend an. Es hatte wieder zu schneien begonnen, doch das sanfte Fallen der federleichten Flocken vermochte Bills aufgewühltes Herz nicht zu beruhigen. Dennoch zwang er sich zu einem Lächeln:
"Hast du noch einen anderen Wunsch?"
Der Junge überlegte einen Moment und nickte schließlich:
"Ich hätte gern ein Buch mit Noten, damit ich noch mehr Gitarre spielen üben kann. Mara hört mir immer zu und freut sich, wenn ich etwas Neues gelernt habe. Aber in dem Buch", er griff nach seinem Weihnachtsbuch, "sind nur drei Lieder drin und die kann ich schon. Willst du mal hören?"
Bill nickt, stand auf und reichte ihm die Gitarre. Etwas unsicher und umständlich griff Jimmy die Akkorde und spielte "Oh holy night".
"Wie oft ist Mara eigentlich hier?", fragte Bill.
"Jeden Tag", antwortete Jimmy. Überrascht runzelte Bill die Stirn:
"Auch am Wochenende?"
Der Junge nickte und verzog das Gesicht, als er sich verspielte:
"Ja! Sie hat gesagt, dass sie mich nicht einen Tag allein lässt."
Alle Achtung ... Jetzt war Bill in der Tat ein wenig erstaunt, aber auch besorgt. Er war vielleicht der Letzte, der das denken sollte, denn er war nicht viel besser, aber Mara hing viel zu sehr an dem Kleinen.
Wenn Bill ehrlich war, war das der schwierigste Punkt in diesem Beruf: Die emotionale Bindung. Man sollte und durfte keine Bindung zu Patienten aufbauen. Klar, es war menschlich, aber Menschlichkeit war in diesem Beruf oftmals nicht gut. Es war schlecht, wenn man zu den Patienten eine Bindung aufbaute und man mit ihnen mitlitt, denn das brachte unter Umständen unprofessionelle Handlungen, die auch schaden konnten. Außerdem litt dann die Konzentration unter dem Kummer und den Sorgen und somit auch die anderen Patienten.
Klar, man sollte nicht kalt, abweisend oder ähnliches sein, aber Mara übertrieb es. Und er musste sich eingestehen ... er auch.
Bill seufzte und fuhr sich durch die Haare.
"Jimmy, ich ... mache dann mal langsam Feierabend, ja? Ich habe noch etwas zu klären. Ich schicke dir aber gleich eine Schwester herein, wenn du willst, da bist du nicht alleine."
Der Junge lächelte und nickte.
"Okay, Dr. Bill! Kommst du mich morgen wieder besuchen?"
"Natürlich, Kleiner."
Bill lächelte und wuschelte dem Kleinen durch die Haare, bevor er aufstand und schweren Herzens das Zimmer verließ.
Den Rest der Schicht trug er einige Aufzeichnungen in Jimmys Akte ein, heftete die Ausdrucke des EKGs ab, an das er angeschlossenen war, und bereitete Emilys Entlassung vor.
"Nach Hause, nach Hause", rief sie vergnügt und tänzelte durch den Flur.
George schnappte sie, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und bat sie, etwas leiser zu sein.
"So, das ist dann alles", sagte Bill und reichte ihm die Entlassungspapiere.
Emily zappelte so wild auf Georges Armen, dass er zwei Anläufe brauchte, um sie entgegen zu nehmen.
"Und wir sehen uns morgen früh zum Backen? Gustav besorgt alles und bringt es nachher vorbei."
Bill nickte, streckte die Hand nach Emily aus und knuffte sie in die Wange:
"Aber diesmal lässt du den Papa die heißen Bleche rausnehmen, ja?"
Emily kicherte, nickte artig und beugte sich vor, um Bills Stirn zu küssen:
"Bis morgen, Onkel Bill."
Als die beiden gegangen waren und Bell Tom eröffnet hatte, dass sie abermals die Schicht einer Kollegin übernahm, und Bill ihm erzählte, dass er eine Verabredung mit der Tänzerin hatte, auf die er jetzt wartete, hatte Tom kurzerhand Gustav eingeladen und sich bei ihm eingeladen.
"Bis nachher, Brüderchen", sagte Tom und verabschiedete sich vor dem Hauptausgang von seinem Bruder. Bill winkte ihm zum Abschied, zog den Kopf zwischen Kragen und Schultern und hielt nach seinem Date Ausschau, als Mara plötzlich in die Kälte trat.
"Oh", machte Bill und ärgerte sich darüber, dass sein Herz in den gewohnten Sprint verfiel, wenn er sie sah.
Zu seinem Erstaunen lächelte sie:
"Ich dachte, du bist schon weg."
"Nein", antwortete er knapp und blickte zu Boden. Er wollte nicht mit ihr reden - sollte sie doch zu Steve gehen.
"Nun, dann habe ich ja Glück." Mara lachte nervös. "Ich wollte dich nämlich fragen, ob du Lust hättest, noch einen Eislaufversuch mit mir zu wagen?"
Bill stockte der Atem und sein Herz beeilte sich noch mehr, um als erstes zum unsichtbaren Ziel zu gelangen.
Am liebsten hätte er sofort zugesagt, aber zum einen war er mit seiner Bekanntschaft von gestern Abend verabredet, zum anderen war er kein Idiot, den man immer so behandeln konnte, wie es einem gerade recht war. Es tat weh, so zu denken, aber es war doch nun mal so.
"Ich ... also weißt du ..."
Er wusste nicht, was er sagen sollte - und im nächsten Moment erübrigte es sich auch schon.
"Bill! Huhu, ich bin hier!"
Erschrocken fuhr er herum und sah das hübsche Mädchen auf sich zueilen.
"Hi!", lächelte er freundlich und bekam einen Kuss auf die Wange gedrückt.
Bill konnte sehen, wie ihr sprichwörtlich die Gesichtszüge entglitten. Ihre Augen waren weit geöffnet und gaben einen Blick frei, den Bill nicht zu deuten vermochte.
Mel räusperte sich und trat auf Mara zu:
"Hallo, ich bin Mel. Arbeitest du auch hier?"
Mara blinzelte und versuchte das Lächeln zu erwidern, doch es misslang kläglich. Was hatte sie denn erwartet? Dass Bill nach ihrer Schmuserei mit Steve wieder auf sie einredete? Er hatte sich vorgenommen zu kämpfen, doch im Moment war er es leid. Mara musste selbst erst erfahren und realisieren, was sie fühlte und so lange würde Bill sich jedenfalls nicht immer und immer wieder das Herz aus der Brust reißen lassen, in der Hoffnung, Mara würde jetzt wissen, was sie wollte.
"Ja, Bill und ich sind Kollegen", antwortete Mara, als sie sich wieder gefangen hatte. "Könntest du ihn mir noch für eine Minute leihen? Ich wollte noch eine Patientensache mit ihm klären."
Mel nickte, warf ihr schönes Haar über die Schultern und deutete ins Krankenhausinnere:
"So lange werde ich mal nach den Toiletten suchen."
"Da vorne links", sagte Bill und deutete in die ungefähre Richtung. Nachdem Mel gegangen war, verschränkte er die Arme vor der Brust und sah sie an. Sein Herz schlug schnell und er hatte Mühe, gleichmäßig zu atmen. Aus irgendeinem Grund hatte er das Gefühl, Mara verraten zu haben, doch wenn er ehrlich war, tat er im Grunde nur, was sie auch tat.
Mara holte tief Luft und lächelte bitter:
"Du bist wirklich unmöglich" Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, doch sie war so schneidend, dass sie in Bills Ohren schmerzte. Bitterkeit, Vorwurf und Trauer lagen in ihren Augen und schnürten Bill die Kehle zu. "Weißt du, wie viel Überwindung es mich gekostet hat, dich zu fragen?"
Bill schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter. Wie gern hätte er gelächelt, sie in seine Arme gezogen und gebeten, ihm zu verzeihen. Doch dunkle Schatten hatten sich auf sein Herz gelegt. Warum nur trieb sie ein Spiel mit ihm? Vor ein paar Stunden noch hatte sie sich an diesen Angeber geworfen und jetzt wollte sie mit Bill ausgehen?
"Wenn es dich Überwindung gekostet hat, dann kann es ja irgendwie nicht richtig sein", sagte er leise und blinzelte, als er kühle Schneeflocken auf seinen Wangen spürte. Es hatte begonnen zu schneien und mit jeder Flocke, die fiel und die Luft abkühlte, wurde auch sein Herz kälter. "Ich weiß ja nicht, was das werden soll, Mara, aber ich bin nicht der Typ, den du an einer Hand halten kannst, während du an der anderen noch einen hast. Und ehrlich gesagt habe ich auch keine Lust mehr, jeden Tag aufzustehen, an dich zu denken und zu hoffe, dass du dieses Mal doch feststellen könntest, dass du mich magst. Du warst eine Herausforderung, die ich gerne angenommen habe, aber inzwischen spielst du mit unfairen Mitteln."
"Eine Herausforderung", lachte sie bitter. "Na wenn ich nichts weiter war, dann hat es sich ja sowieso erledigt!" Ein bitterer Blick ins Leere, dann drehte sie sich um. Im nächsten Moment packte Bill sie aber am Handgelenkt und zog sie zurück.
"Du weißt, was ich für dich empfinde, aber ich kann nicht mein ganzes Leben nach dir richten, wo du mir ja nicht einmal eine Chance gibst! Ein Kuss - du bist sauer und haust ab. Ein zweiter Kuss - das gleiche Spiel von vorn. Ich bin nicht im Kindergarten, Mara. Irgendwann verstehe selbst ich es, wenn man mich abweist!"
"So, da bin ich wieder. Können wir?" Mel kam aus dem Gebäude und lächelte die beiden an. Sie strahlte so offen und herzlich, dass es wohl jedem das Herz erwärmte, der sie so sah.
"Ja, wir können."
Mit einem letzten Blick auf Mara, ergriff Bill die Hand seines Dates und lief mit ihr los, ohne seine eigentliche Herzensdame noch eines Blickes zu würdigen. Es schmerzte, ja, aber lieber spielte er mit offenen Karten, anstatt wie Mara, ständig die Hand zu wechseln .
Gemütlich schlenderte er mit Mel ein wenig durch die Stadt und unterhielt sich mit ihr, bis sie eine halbe Stunde später bei einem Café ankamen, für welches sie sich entschieden. Es war hell, sah gemütlich aus und war herrlich weihnachtlich geschmückt. Dicke Girlandenzweige säumten die Fenster und auf jedem Tisch stand eine kleine Kerze, während aus den Lautsprechern traditionelle Weihnachtlieder erklangen.
"Zwei Kaffee bitte!", orderte Bill und setzte sich Mel gegenüber, die ihn die ganze Zeit über anlächelte.
Mel war nett, offenherzig und ungemein sympathisch. Sie mochte nicht so klug sein wie Mara, aber dafür war sie auch weniger kompliziert.
"Und dann hab ich beschlossen, Medizin zu studieren", endete Bill, nachdem Mel ihn gefragt hatte, wie er zum Medizinstudium gekommen war. Sie schien sich wirklich für ihn zu interessieren und war eine ausgesprochen gute Zuhörerin - und dennoch - immer wieder erwischte er sich dabei, wie sich seine Gedanken den Weg zu Mara suchten. Der entsetzte Ausdruck in ihren Augen, der Schmerz auf ihren Zügen - wenn er es nicht besser wüsste, hätte er behauptet, dass sie eifersüchtig war, verletzt und erschüttert. Aber er wusste auch, dass es unrealistisch war, immerhin hatte sie ihm noch vor ein paar Tagen gesagt, dass es keinen Klick gegeben hatte.
"Bill?" Mels Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.
"Hm", machte er und sah sie fragend an. Er spielte an dem Henkel seiner Kaffeetasse und wünschte sich mit einem Mal Mara her.
"Hast du mir gar nicht zugehört?", fragte Mel und lächelte nachsichtig. "Wo bist du denn mit deinen Gedanken?"
Er sah ihr entschuldigend in die Augen. Es tat ihm leid . Eigentlich nutzte er Mel nur aus. Als Ablenkung und als Rache für Mara, weil sie sich ebenfalls jemanden gesucht hatte.
Es war nicht seine Art und er kam sich in diesem Moment vor, als sei er wieder ein Kind und Tom hatte ihm seinen Teddy weggenommen. Dann hatte er sich auch immer etwas anderes gesucht, was er hoch angepriesen und als besser dargestellt hatte, damit Tom das Interesse an dem eigentlichen Objekt seiner Begierde verlor. So war es jetzt mit Mara und Steve.
Er war so bescheuert.
"Hör mal, Mel, ich . denke ich sollte jetzt gehen. Du bist wirklich nett, ich mag dich und ich würde mich freuen, wenn wir Freunde werden können, aber mehr, worauf das hier ja hinauslaufen sollte, ist da nicht. Ich kenne ein Mädchen, das ich wirklich sehr mag. Nur hatte ich bisher nicht das Glück, dass ich es erwidert bekam. Du warst eigentlich nur ein Vorwand, um mich abzulenken und ihr zu zeigen, dass sie mir nicht so wichtig ist, wie ich es sonst gezeigt hab. Das ist kindisch und dumm und es tut mir leid. Ich wollte dich nicht dafür missbrauchen. Ich hoffe, du ..."
"Ist okay", unterbrach Mel ihn und lächelte weiterhin.
"Ich habe es mir fast denken können. Du bist oft mit den Gedanken abgeschweift und schienst nicht so recht anwesend. Gestern und heute auch. Es ist das Mädchen von vorhin, oder? Weißt du . Ich kenn das. Es ist nicht schön, wenn man jemanden liebt und das nicht erwidert wird und ich weiß, dass man sich dann gern ablenken möchte. Es ist nicht schön, was du gemacht hast, richtig. Aber ich denke du bist dennoch ein netter Kerl und weißt du was? Ich glaube so schlecht stehen deine Chancen bei ihr gar nicht." Überrascht runzelte Bill die Stirn:
"Meinst du?"
Mel nickte und zuckte gleichzeitig mit den Schultern:
"Frauen haben manchmal sehr eigenwillige Wege, ihre Gefühle zu zeigen." Sie hob die Hand und bedeutete einem Kellner, dass er die Rechnung bringen sollte. "Du solltest vielleicht nochmal mit ihr reden." Mit einem Grinsen fügte sie hinzu: "Und weil du mich so furchtbar gemein ausgenutzt hast, musst du mich einladen."
Bill erwiderte ihr Grinsen und ließ sich die Rechnung reichen:
"Natürlich!"
Bill war erleichtert, dass Mel so unkompliziert reagiert hatte. Er bedankte sich für das nette Gespräch und brachte sie zur Busstation am Rockefeller Center.
"Mach's gut, Bill", rief sie und schlüpfte lachend in den Bus.
Seufzend und unschlüssig drehte er sich um und lief weiter. Er selbst wollte noch nicht nach Hause gehen. Tom war mit Gustav unterwegs und bei all seinem Gedankenchaos würde Bill in der Stille der Wohnung vermutlich die Decke auf den Kopf fallen. Und so lief er weiter, an den duftenden Ständen vorbei, auf den riesigen Weihnachtsbaum hinter der Eislaufbahn zu. Tausend Lichter funkelten auf seinen mit Schnee bestäubten, mattgrünen Zweigen und spiegelten sich in den riesigen, goldenen Kugeln.
Weihnachtsmusik dudelte aus den Lautsprechern vor der Eisfläche und sollten die Besucher in Stimmung bringen, doch sie verstärkte Bills Missmut. Ob Mel rechthatte?
Auf Höhe des Weihnachtsbaumes blieb er stehen, legte die Hände auf die Bande und überflog die helle Eisfläche. Er blickte in glückliche, unbeschwerte Gesichter und wünschte sich, einer unter ihnen zu sein.
Seine Augen blieben an einem Hinterkopf hängen, unter dessen heller Mütze ein brauner Pferdeschwanz hervorlugte. Das schlanke Mädchen stolperte mehr, als das es lief.
Bill schnappte nach Luft, als sie sich umdrehte und er Maras schönes Gesicht erkannte.
Sie sah ihn allerdings nicht und versuchte weiter darin, sich elegant über die Eisfläche zu bewegen. Es gelang ihr allerdings in keiner Weise. Viel mehr sah sie aus wie ein ungeschickter Trampel.
Bill schmunzelte. Irgendwie war das süß. Im nächsten Moment schreckte er allerdings auf, als die Studentin ihr Gleichgewicht verlor und stürzte. Einen Moment blieb sie stillliegen, ehe sie sich in eine sitzende Position aufrichtete. Bill sah mit schmerzendem Herzen zu, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie sah allerdings nicht aus, als hätte sie so starke Schmerzen und würde deswegen weinen, sondern vielmehr, als wäre sie schlichtweg überfordert.
Schluchzend vergrub sie ihr Gesicht in ihren Händen und begann zu zittern.
Bill reichte es. Er eilte zur Schlittschuhausgabe, ließ sich ein Paar geben und zog diese an, bevor er samt seiner Tasche auf die Eisfläche stieg. Er hoffte, dass seine Schuhe nachher noch vor der Eisfläche stehen würden, wenn nicht, hatte er Pech. Das war ihm gerade egal, viel wichtiger war ihm im Moment Mara, die noch immer auf dem Boden saß und herzzerreißend zu weinen schien.
Rasch fuhr Bill über die Eisfläche, bis er hinter Mara zum Stehen kam. Sanft legte er seine Hand auf ihre Schulter.
"Lassen Sie mich, ich will meine Ruhe!", schluchzte sie und versuchte die Hand abzuschütteln, aber Bill ließ nicht locker. Vorsichtig kniete er sich auf den eisigen Boden und legte dann seine Arme um sie.
"Starke Mädchen weinen doch nicht und stehen immer auf, wenn sie fallen. Und ich bin mir sicher, dass du stark bist, das zeigst du auf Arbeit oft genug ." Überrascht hob sie den Kopf:
"Bill?" Ungläubig sah sie ihn an, wischte sich mit dem behandschuhten Handrücken übers Gesicht und schniefte.
Bill lächelte, löste sich von ihr und nickte:
"Hey." Sanft strich er ihr über die Wange und half ihr etwas umständlich auf.
"Was . was machst du denn hier?", schniefte sie und krallte sich unsicher an Bills Mantel fest.
"Ich . hör zu, Mara, es tut mir leid. Was ich vorhin gesagt habe, meinte ich nicht so. Ich war nur so . so eifersüchtig, weil du mit Steve rumgemacht hast und-"
Überrascht hob Mara die Augenbrauen:
"Ich habe nicht mit ihm rumgemacht." Verlegen wandte sie den Blick von ihm ab und ließ die Arme sinken. "Ich habe ihn gebeten, nur befreundet zu sein. Steve ist nett, aber ich mag ihn nicht so, wie er mich."
Verwirrt und skeptisch lüpfte Bill eine Augenbraue. Das sah gestern aber ganz anders aus! Und das sagte er ihr auch.
"Du hast gestern mit ihm geschmust, ihn geküsst und bist mit ihm ausgegangen. Ich kann nicht sagen, dass es aussah, als seid ihr nur Freunde und du sagtest ja auch, dass es ein Date ist. Oder hast du mich belogen?"
Sofort legte sich eine dunkle Röte auf die Wangen der hübschen Brünetten. Vorsichtig ließ sie sich an die Eisflächenplanke ziehen und hielt sich dort fest.
"Ja, ich ... Habe ihn geküsst und seine Hand gehalten und ... vielleicht habe ich auch ein bisschen geschmust, und nein, ich habe dich nicht angelogen, es war wirklich ein Date, nur ... Bill, ich war so verwirrt. Die ganze Zeit flirtest du mich an und ich fühle nichts, und dann auf einmal tut sich doch irgendwie etwas ..."
Sie schluckte, als sie verlegen und unsicher auf den Boden sah. Abermals stiegen ihr Tränen in die Augen.
Aber es tat ihrer Schönheit keinen Abbruch. Bill war einfach fasziniert von ihr. Er konnte nicht verstehen, wie eine Person so schön sein konnte, selbst, wenn sie traurig war und litt.
Sanft legte er einen Finger unter ihr Kinn und hob so ihr Gesicht und ihren Blick an. Sanft lächelte er ihr ins Gesicht und fühlte eine Explosion in seinem Bauch, die nicht hätte schöner sein können. Die Druckwelle erreichte sein Herz, welches so hastig losklopfte, dass es nur mit Müh nicht ins Straucheln kam.
Es war unglaublich. Sie fühlte tatsächlich etwas für ihn. Irgendwie. Vielleicht nicht die große Liebe und vielleicht auch überhaupt keine richtige Liebe, aber zumindest ein wenig verliebt schien sie zu sein. Jetzt hatte er endlich etwas, worauf er aufbauen konnte, was er in ihr weiter entfachen konnte.
Ein zartes Lächeln huschte über seine Lippen, als er erkannte, wie unsicher sie ihn ansah, und er sich langsam zu ihr vorbeugte, um ihr sanft seine Lippen aufzudrücken.
Dieses Mal war es anders, denn mit einem Male spürte er, wie sich Mara in den Kuss lehnte und ihn erwiderte. Tausend Funken stoben in Bills Magen, entflammten sein Herz und beflügelten seinen Geist. Wie viele Tage hatte er darauf gewartet? Wie sehr hatte er sich gewünscht, dass dieser Augenblick kam? Nun war er hier und Bill hätte glücklicher nicht sein können.
Lächelnd löste er sich von ihr, strich über ihre geröteten Wangen und griff dann nach ihrer Hand:
"Was meinst du? Sollen wir noch ein bisschen üben?", fragte er und deutete auf die Eisfläche.
Sie zögerte, nickte dann aber und erwiderte den Händedruck für einen Moment, ehe sie sich von Bill wieder inmitten auf die Eisfläche ziehen ließ.
Unsicher schwankten ihre Beine immer wieder auseinander und zusammen, hinterließen wellenartige Spuren auf dem schon recht geschundenen Eis.
"Versuch mehr Kraft in deine Beine zu setzen, eben ... mehr Kontrolle über sie zu haben", lächelte Bill und nickte auffordernd, als Mara ihn ansah, als würde sie nicht glauben, dass sie es schaffte. Schüchtern nickte sie und sah auf ihre Beine. Zuerst änderte sich nichts, aber dann stellte Bill tatsächlich eine Besserung fest.
"Und versuch auch die Schritte nicht so kurz zu machen. Nicht, wie beim Laufen, sondern versuch die Schritte quasi etwas ausgleiten zu lassen. Ähnlich wie beim Skaten, solltest du das schon mal gemacht haben!"
Abermals nickte Mara und wurde von Bill beobachtet. Sie tat sich wirklich ungeschickt, aber er konnte auch feststellen, dass sie tatsächlich seine Ratschläge berücksichtigte und es zumindest bedingt schaffte, sie umzusetzen.
Bill hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Er konnte nicht sagen, ob sie erst ein paar Minuten oder schon ein paar Stunden auf dem Eis gefahren waren. Es war, als hätte die Zeit ihre Bedeutung verloren, wenn er mit Mara zusammen war. Zumindest aber spürte er an seinen unterkühlten Beinen, dass es längst Zeit war, eine Pause einzulegen und sich aufzuwärmen.
"Was hältst du von einem Glühwein?", fragte er und deutete auf einen der zahlreichen Stände. Erst jetzt war ihm aufgefallen, dass er Mara noch von seinem waghalsigen Versuch erzählen musste, das Weihnachtsfest auf der Kinderstation zu retten und sie gegebenenfalls zu bitten, sich zu beteiligen. Vielleicht könnte er sie für morgen sogar zum Plätzchenbacken einladen.
"Ich halte viel davon!", schmunzelte sie und ließ sich von Bill von der Eisfläche ziehen. Zu dessen Erleichterung standen seine Schuhe tatsächlich noch da. Er zog sie an, während Mara selbst zu ihrem Spint ging und ihre Schuhe anzog und auch ihre Tasche herausholte.
Bill schmunzelte. Das hieß wohl, sie wollte heute nicht noch mal aufs Eis. Aber es war auch genug, wenn man es übertrieb, lernte man auch nicht viel besser.
Einen Moment schluckte er, griff dann aber einfach wieder nach Maras Hand. Innerlich atmete er auf, als sie es tatsächlich wieder zuließ und ihre Hand auch in seiner ließ, anstatt sie wie angenommen, wegzuziehen. Es fühlte sich so herrlich an. So richtig.
Gemeinsam bestellten sie sich zwei Glühweine und setzten sich dann an einen Tisch.
"Du? Es gibt Neuigkeiten was das Weihnachtsfest für die Kinder angeht."
Und so erzählte er ihr, wie er und Tom die Krankenhausleitung überredet hatten, George Spielzeuge und Süßigkeiten organisiert und Gustav alles für ein ausschweifendes Plätzchenbacken besorgt hatte. Zunächst hatte Mara geschwiegen. In ihren Augen lagen Ungläubigkeit und Zweifel, doch dann war sie ihm derart stürmisch in die Arme gefallen, dass Bill seinen Glühwein vor Schreck hatte fallen gelassen. Hunderte Mal hatte sie sich bei ihm bedankt und ihre Freude bekundet, ihm erzählt, sie hätte von ihm niemals ein derartiges Engagement erwartet und schließlich hatte sie gelacht und ihn geküsst. Obwohl sie bereits auf dem Nachhauseweg waren, spürte er den Druck von Maras sanften Lippen noch immer auf den seinen.
"Du musst mich wirklich nicht nach Hause bringen, Bill", sagte sie und griff nach seiner Hand, als sie gemeinsam die Straße zu Maras Studentenwohnheim entlangliefen.
Bill lächelte, fegte den Schnee von ihrer Mütze und zuckte mit den Schultern:
"Ein echter Gentleman macht das so."
Mara kicherte und schüttelte den Kopf:
"Nimm's mir nicht übel, aber mit deinen Piercings und Tätowierungen erfüllst du nicht unbedingt das optische Durchschnittsbild eines Gentlemans." Sie blieb stehen, sah ihn schüchtern an und stellte sich auf die Zehenspitzen, damit sie ihm in die Augen sehen konnte. "Aber ich mag das sehr, denke ich."
"Denkst du?", fragte Bill und zog eine geschauspielerte Schnute.
"Weißt du . ich bin nicht besonders gut in so etwas", gab sie zu und lächelte.
Bill neigte seinen Kopf so weit nach vorn, dass er ihren Atem auf seiner Haut spürte:
"Ich finde, du schlägst dich nicht schlecht."
Eine zarte Röte schlich sich auf ihre Wangen. Aber ihre Schüchternheit tat ihrer Initiative keinen Abbruch. Sie streckte sich noch ein Stück und hauchte Bill einen Kuss auf die Wange.
"Danke, dass du mich gebracht hast. Wir sehen uns morgen, ja?"
Bill nickte verblüfft, hatte seine Hand auf die eben geküsste Wange gelegt und sah dem hübschen Mädchen wie gebannt hinterher.
Sie war so unglaublich süß. Vor allem war der Kontrast von ihrem gestrigen, eher negativen Verhalten zu dem jetzigen, lieben, netten Verhalten, welches sie für gewöhnlich ja auch hatte, so groß. Sie war einfach ... perfekt für ihn.
Kaum war er zuhause angekommen, kam Tom aus dem Wohnzimmer und sah ihn erwartungsvoll.
"Das mit Mel ging in die Hose. Ich hatte ein schlechtes Gewissen und hab ihr die Wahrheit gesagt ...", antwortete Bill auf die unausgesprochene Frage. Sein Bruder seufzte bedauernd. "Aber dafür habe ich Mara getroffen und mit ihr gesprochen."
Während Tom zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank holte, erzählte Bill seinem Bruder von dem Gespräch mit Mara, dem Eislaufen und ihrer Freunde darüber, dass sie das Kinderstations-Weihnachtsfest retten würden.
Tom lachte und prostete ihm zu:
"Wie sagt Mum immer? Was lange währt, wird ewig gut? Sie hat wahrscheinlich einfach nur einen Schups gebraucht."
Sie redeten bis tief in die Nacht hinein, sammelten Ideen für die Weihnachtsfeier und schliefen schließlich vor dem Fernseher ein.
Zitat des Tages
"Nach außen hin waren wir immer sehr, sehr stark und dominant, wir haben uns nie irgendwie unterbuttern lassen oder so..."
"Nach außen hin waren wir immer sehr, sehr stark und dominant, wir haben uns nie irgendwie unterbuttern lassen oder so..."
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Hier kommt ihr zum Türchen Nummer 18
Du darfst die fragen gerne nehmen :)
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